Regelmäßig über die eigenen Ansprüche nachzudenken und sie einem "Reality Check" zu unterziehen, halte ich für eine wichtige Selbstführungskompetenz.
Wir Lehrkräfte sind nämlich häufig perfektionistisch und verlangen uns Engagement über alle Maßen ab. Neben unseren eigenen pädagogischen und fachlichen Ansprüchen haben wir sowohl den Bildungs- und Erziehungsauftrag als auch konkrete Anforderungen von Schüler*innen und Eltern sowie den in manchen Kollegien (still herrschenden) Leistungsdruck internalisiert.
Die Gefahr, sich mit all dem zu überfordern, ist groß. Deshalb kann eine bedeutsame Entlastungsstrategie sein, uns immer wieder (neu) auf realisierbare Ansprüche zu justieren.
Seien Sie ehrlich, welche dieser Ansprüche treffen auf Sie zu?
Machen Sie den Selbsttest. Treffen folgende Aussagen voll, teilweise oder gar nicht auf Sie zu?
Ich möchte
- Respekt von Schüler*innen und Eltern erhalten,
- bei den Schüler*innen beliebt sein,
- mit schwierigen Schüler*innen gut klarkommen,
- allen Anforderungen genügen,
- für Disziplin und Klassengemeinschaft sorgen,
- perfekten Unterricht machen,
- dass meine Schüler*innen gute Leistungen bringen,
- gerechte Noten verteilen,
- für meine Fächer begeistern,
- möglichst keine Fehler machen und ein gutes Vorbild sein,
- im Kollegium anerkannt sein,
- tolle Schulprojekte leiten,
- digital gut aufgestellt sein,
- einen guten Ruf haben,
- dass Eltern ihre Kinder erziehen.
"Reality-Check"
Alle diese Ansprüche einzeln und erst recht in jedweder Kombination führen nicht selten zu Überforderungsgefühlen und Selbstzweifeln, wenn nicht gar mit der Zeit ins Burn-out. Sie sind (zu) gut gemeint, aber in der Schule in dieser Absolutheit nicht realistisch. Hinzu kommt, dass die Umsetzungen nicht messbar sind, und dadurch bleiben Erfolgserlebnisse überwiegend aus. Im Gegenteil, wir geraten mehr und mehr unter Druck. Wir können weder perfekt unterrichten, benoten und erziehen noch von allen gemocht, respektiert und für unseren Einsatz bewundert werden.
Um dennoch Erfolg zu haben und in unserem Beruf zufrieden zu bleiben, müssen wir eine "Anspruchsanpassung" vornehmen. Dabei geben wir unsere Zugewandtheit nicht auf, arbeiten aber an unserer professionellen Distanz und Gelassenheit. Manches in der Schule lässt sich einfach nicht ändern.
Es wird immer Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen geben, die unseren Unterrichtsstil, unsere Benotung oder Klassenführung als ärgerlich, ungerecht oder unmodern bezeichnen. Finden wir uns damit ab. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen.
Es wird immer andere Lehrkräfte geben, die vermeintlich besser ankommen, besser unterrichten, bei denen alle Schüler*innen ihre Hausaufgaben machen. Finden wir uns damit ab. Dafür kann unser Mut zur Lücke oder unser Verständnis für einzelne Schüler*innen erfolgreich sein. Schauen wir genau hin. Was ist in welcher Gruppe machbar? Wieviel wichtiger ist zuweilen der Weg und nicht das (Klassenarbeits-/Klausur-) Ergebnis oder die einzelne Hausaufgabe?
Es wird immer wieder einzelne Schüler*innen geben, die für uns schwierig sind, an die wir nicht herankommen, die uns ärgern, und wir erkennen den Hintergrund nicht. Finden wir uns damit ab. Bleiben wir "dran", aber nicht um jeden Preis. Üben wir stattdessen Gelassenheit.
Es wird immer wieder Widrigkeiten geben: schlechter Stundenplan, bürokratische Vorgaben, unplanmäßige Verläufe, z.B. auf Klassenfahrten, in Projekten oder Veranstaltungen. Finden wir uns damit ab. Bleiben wir optimistisch, beim nächsten Mal kann es schon ganz anders laufen. So geht Schule eben.
"Realistische Wende"
Ihre persönliche Reflexion Ihres Anspruchsdenkens - häufig einhergehend mit einem Hang zum Perfektionismus - kann Ihre "Baustellen" aufdecken und Sie ruhiger werden lassen. Eventueller Frust wird entlarvt und von realistischen (machbaren) Ansprüchen bekämpft.
Was wäre also realistisch?
Zum Beispiel folgendes Gedankenspiel: "Störenfriede" in der Schule sind normal. Auf "Störenfried XY" in meiner Klasse werde ich in den nächsten sechs Stunden bewusst gelassen und ruhig reagieren, um sie*ihn weiter "mitzunehmen" und die anderen Schüler*innen vor Störungen zu schützen. Nach jeder Stunde mache ich mir eine kurze Notiz. Vor der siebten Stunde werte ich diese aus. Belastende Gedanken zwischendurch ignoriere ich konsequent. Das ist legitime Selbstführung. Entsprechend meiner Auswertung setze ich mein Verhalten fort, verfeinere es oder überlege mir eine andere Strategie. Vorwürfe mache ich mir nicht. Kleinste Erfolge sehe ich und freue mich. Misserfolg ist ebenso realistisch. Ich rechne damit und überlege, was ich daraus lernen kann.
Realistische Ansprüche können Sie zudem in einer kollegialen Beratungsgruppe entwickeln lernen. Eine solche Gruppe Gleichgesinnter sorgt darüber hinaus in der Regel für positive Gefühle wie Entlastung, Freude am Beruf und Verbundenheit.